1943 Berlin Blitz – VR-Zeitreise in den Bombenkrieg

Du befindest dich in einem Flugzeug, das über den Kanal nach Deutschland fliegt. Es ist Nacht und vor dir zerschneiden die Kegel von Suchscheinwerfern den dunklen Himmel, sie suchen nach Flugzeugen wie deinem, um sie abzuschießen. Schwierig, da nicht die Nerven zu verlieren, wie macht der Pilot das nur? Überall um den Flieger herum siehst du, wie Geschosse nach oben schnellen und explodieren. Du schaust nach vorne, in den kurzen Lichtblitzen kannst du die Schemen anderer Bomber vor und neben euch erkennen. Ganz nahe hinter dir kracht es und es wird gleißend hell – ist der Flieger getroffen? Du drehst den Kopf nach hinten.. Nein, sieht gut aus.

Die Virtual Reality-Anwendung 1943 Berlin Blitz vermittelt dir ein Gefühl dafür, wie sich die Nachteinsätze für die Bomberbesatzungen der britischen Royal Air Force angefühlt haben. Spätestens der rot glühende Himmel, und dann die brennende Stadt Berlin machen es mir verdammt schwierig, unter der VR-Brille Oculus Rift nicht die Fassung zu verlieren. Du bekommst die Anwendung kostenlos im Oculus-Store und auf Steam.

» Offizielle Website von 1943 Berlin Blitz

1943 Berlin Blitz

Der 2. Weltkrieg ist eine Erfahrung, die wir – zum Glück – nicht selbst machen können. Einige Zeitzeugnisse haben diese wenig glorreiche Phase der deutschen und europäischen Geschichte aber überlebt. Eines davon ist eine Tonaufzeichnung von einem solchen Flug. Und damit gelingt es, diese Erfahrung im Rahmen einer VR-Erfahrung ein gutes Stück weit zu rekonstruieren und erlebbar zu machen.

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Ich habe die Erfahrung auf YouTube hochgeladen, hier kannst du sie in ganzer Länge anschauen!

Ein Reporter an Bord eines Bombers

1943 trat die britische Royal Air Force an die BBC heran und bot an, zwei Mitarbeiter auf einen Ausflug nach Berlin mitzunehmen. Sie sollten die Bordgespräche aufzeichnen, die Ereignisse kommentieren und nach der Rückkehr in einer Radio-Show über alles berichten. Natürlich war es kein normaler Ausflug, sondern ein Nachtflug im britischen Bomberverband mit dem Ziel, Bomben über Berlin abzuwerfen und möglichst viele Zivilisten zu töten. Dass die Bomberbesatzungen im 2. Weltkrieg eine kurze Überlebenszeit hatten, war bekannt, denn ein Großteil aller Flugzeuge wurden von deutschen Flugzeugabwehrkanonen (Flaks) oder wendigen Jägern abgeschossen.

Und dennoch erklärte sich der Reporter Wynford Vaughan-Thomas einverstanden und schloss sich zusammen mit dem Sound-Techniker Reginald Pidsley für eine Nacht der siebenköpfigen Besatzung des Lancaster-Bombers F wie Freddy an. Deswegen haben wir eine originale Aufzeichnung eines solchen Fluges, in der wir nicht nur die Besatzung untereinander sprechen und die Motoren der Lancaster brummen hören – der Reporter berichtet auch, was passiert und was er sieht. Und so hören wir „live“ (aber 85 Jahre später) von den Suchscheinwerfern an der Kanalküste, von feindlichen Jägern, von ausgeklinkten Bomben über Berlin.

Die Aufzeichnung ist frei auf der Website des Australian War Memorial verfügbar (ganz unten)

Das „Drehbuch“ ist also da – es fehlte nur noch, dass jemand das visualisiert, was Vaughan-Thomas vor einer Lebensspanne sah und erlebte. Und da sind wir nun mit 1943 Berlin Blitz.

Nachtflug nach Berlin, September 1943

1943 Berlin Blitz ist weder ein Spiel, noch ein Film – sondern am ehesten eine Erfahrung. Du wirst zusammen mit den beiden BBC-Reportern mit an Bord der Lancaster F wie Freddy versetzt und nimmst als unsichtbarer schwarzer Passagier am Flug teil. Der dauerte im September 1943 rund 8 Stunden, wobei später nur rund 6,5 Minuten davon während der BBC-Reportage gesendet wurden. Die VR-Anwendung beschränkt sich im Wesentlichen auf diesen Originalbericht vom Flug und dauert insgesamt auch nur 15 Minuten.

Jeder Flug beginnt mit dem Start: Du findest dich in einer Kuppel auf dem Bomber wieder, der gerade am Beginn der Startbahn steht. Rechts von dir geht die Sonne unter – und wärst du nun wirklich da, wüsstest du nicht, ob du sie wiedersehen wirst. Vaughan-Thomas stellt während des Starts die Crew vor.

Bald darauf fliegt die Bomberstaffel in den deutschen Luftraum über den Niederlanden ein – Vaughan-Thomas kommentiert, wie die Suchscheinwerfer den Himmel absuchen. Die Deutschen versuchten in den Niederlanden natürlich, so viele feindliche Bomber abzuschießen wie möglich, um die Großstädte im Landesinnern zu schützen. Was für ein sinnloser Mist – jeder will jeden töten..! Wie schlimm muss es sein, in diesem Flugzeug zu sitzen und mitten über das Feindesland zu fliegen.

1943 Berlin Blitz
Der Himmel glüht

Der glühende Himmel kündigt dann Berlin an, das schon hell brennt. Vaughan-Thomas beschreibt den Ring von Flak-Suchscheinwerfern um die flackernde Stadt herum und spricht davon, dass sie sich dem großen Feuerwerk nähern. Unsere Lancaster fliegt mitten über den Stadtkern und klinkt dort ihre Bomben aus. Dann wird eine andere Lancaster von der Flak getroffen und stürzt ab, kurz darauf kündigt sich ein deutscher Nachtjäger an, der F wie Freddy ins Visier nimmt. Der Jubel der Besatzung, als der MG-Schütze den Jäger abschießen kann, drückt die Erleichterung der Crew aus. Danach geht es wieder auf den Rückweg Richtung England. Die Stimmung an Bord wird deutlich gelöster, man merkt es an den Gesprächen an Bord.

Als unsichtbarer Begleiter beobachtest du alles von verschiedenen Plätzen im sehr detailliert (und originalgetreu) nachempfundenen Flieger aus – mal direkt hinter dem Pilot, mal unten beim Bomdardier, wo man einen besonders atemberaubenden Blick auf das brennende Berlin hat, mal im Schützenstand. Manchmal siehst du recht gut, aber es wird auch deutlich, dass die Piloten und der Navigator beispielsweise selbst nur einen sehr eingeschränkten Blick auf den Bereich vor dem Flieger haben. Man muss sich wirklich fühlen wie in einer Nusschale auf rauher See.

1943 Berlin Blitz
Blick nach hinten

Der enorme Bildungscharakter von Virtual Reality

1943 Berlin Blitz von der BBC ist wie Nefertaris Grabkammer in Journey to Eternity eine der perfekt umgesetzten Meilenstein-Apps, die demonstrieren, was Virtual Reality der Menschheit bieten kann. Journey to Eternity schenkt uns eine extrem detailreich umgesetzte Reise zu einem entfernten Ort – eine streng geschützte ägyptische Grabkammer -, den wir in der Realität höchstwahrscheinlich nie sehen könnten. 1943 Berlin Blitz schenkt uns eine Zeitreise.

Eine Verschmelzung beider Anwendungen wäre Anne Frank House VR, wo wir das Versteck von Anne Franks Familie in Amsterdam im Zustand der 40er Jahre besuchen. In der Realität kann man das Haus zwar auch besichtigen, aber es ist heute ein Museum und spiegelt damit nicht die bedrückende Atmosphäre wieder. In der VR-App fliegen dagegen nachts Bomber über das Haus. Die technische Umsetzung als VR-App ist bei Anne Frank nur nicht so gut gelungen wie bei den beiden anderen VR-Anwendungen.

Beide VR-Erlebnisse verbinden greifbare historische Befunde (eine streng geschützte, real existierende Grabkammer, eine aufgezeichnete Dokumentation von dramatischen Ereignissen) mit moderner Computertechnik. Sie liefern das nach, was sonst nur schwer oder gar nicht zu erfahren ist. 

Die Radiosendung vom Flug nach Berlin und zurück nach Großbritannien ansich ist schon bedrückend genug, wenn man sich das ausmalt, was der Reporter berichtet – einen Flug durch die Lichtkegel der Flak-Suchscheinwerfer, Explosionen um den Flieger herum, und dann, wenig später, vor sich weit am Boden eine brennende Stadt. Dazu die Flaks, abstürzende Bomber der Royal Air Force, angreifende feindliche Jäger, und ach ja, die eigenen Bomben darf man ja auch noch in das Chaos am Boden werfen, wo sich die Zivilisten in Bunkern drängen und um ihr Leben bangen. 

Das Ausmalen sparen wir uns mit 1943 Berlin Blitz – hier bekommen wir es detailreich direkt serviert. Ich glaube, wer sich wirklich auf 1943 Berlin Blitz einlässt und sich auch mental versucht, in die Lage der Männer zu versetzen, den kann diese VR-Erfahrung nicht kalt lassen.

Dass wir dabei nur unsichtbarer Begleiter ohne Funktion sind (fliegen, schießen, Bomben ausklinken), finde ich auch passend. Die Anwendung ist eindeutig nicht „spielerisch“ ausgelegt – in einem Spiel geht es schließlich immer darum, zu gewinnen oder zumindest weiterzukommen. Und das wäre hier in jeder Hinsicht fehl am Platze. Menschen fliegen unter größter Lebensgefahr viele Stunden zu einer Stadt, um dort Bomben abzuwerfen, die andere Menschen töten sollen – da ist nichts zu gewinnen, für niemanden.

Es gibt übrigens auch Videos von bombardierten, brennenden deutschen Städten und auch von Suchscheinwerfern (die mir neben dem glühenden Himmel über der Stadt besonders im Gedächtnis hängen bleiben) – aber anders als eine Sprachaufzeichnung können diese verschwommenen Bilder ohne Details keinen so großen Realismus erzeugen wie eine Stimme.. und ein VR-Erlebnis.

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