„Heiliger Sand“ – Der älteste jüdische Friedhof Europas

Krumme Grabsteine stehen in unregelmäßigen Abständen verteilt über ein hügeliges Gelände. Alte Bäume spenden dem Besucher des jüdischen Friedhofs in Worms Schatten, während er über die nicht ausgewiesenen Wege, eher Trampelpfade, über den Friedhof spaziert. Hier gibt es eine Fotogalerie 🙂

Spontane Entscheidung heute „Morgen“ nach dem Frühstück kurz nach Mittag: Auf nach Worms! Dort gibt es einen jüdischen Friedhof, den wir uns schon seit Jahren mal anschauen wollen.

Über rund 900 Jahre in Gebrauch

Denn es ist nicht nicht irgendein Friedhof, nein – Der „Heilige Sand“ ist der älteste erhaltene jüdische Friedhof Europas. Die ältesten Grabsteine stammen aus der Mitte des 11. Jahrhunderts und sind beinahe 1000 Jahre alt! Jüdische Grabstätten sind für die Ewigkeit gedacht. Sie dürfen bzw. sollen nicht eingeebnet und neu belegt werden, wie das bei allgemeinen christlichen Grabstätten in der Regel der Fall ist. Deswegen gibt es unter den rund 2500 erhaltenen Gräbern des jüdischen Friedhofs in Worms eine große Zahl jahrhundertealter Grabstätten.

Man kann ja froh sein, dass dieser Friedhof so gut erhalten ist. Viele jüdische Friedhöfe wurden durch die zahlreichen Judenverfolgungen im Mittelalter und bekanntermaßen auch im 20. Jahrhundert noch schwer in Mitleidenschaft gezogen, manche wurden vollständig zerstört. Der Wormser Friedhof hat auch das Dritte Reich fast unbehelligt überstanden. Die letzten Bestattungen fanden aber in den 1930er Jahren statt, auch, weil der Friedhof mittlerweile so voll belegt war. Er durfte ja nicht eingeebnet werden. Bis dahin aber wurden über rund 900 Jahre hinweg immer wieder Bestattungen vorgenommen.

Eingebettet in die Natur

Ich wusste nicht genau, was uns auf dem Friedhof erwartet. Schon vom Eingang aus bekommt man einen guten Eindruck. Die Grabsteine stehen teilweise krumm verstreut über das gesamte hügelige und baumbestandene Gelände. Es sieht irgendwie unwirklich aus, wie nur diese halb verwitterten, uralten Inschriftensteine aus dem Boden ragen. Keine Grabhügel, keine Kränze, Kerzen, Blumen oder Gartenarrangements – klar. Die Gräber sind ja schon uralt, wer sollte sie auch pflegen? Aber darüber hinaus ist so eine Grabpflege, wie wir sie im Christentum haben, bei den Juden auch gar nicht üblich, wie ich gelesen habe. Es gibt nur diese Grabplatten mit Inschriften, und anstatt von Blumengestecken legt man Steine auf den Grabstein.

Davon haben wir auch noch welche gefunden. In Worms sind mehrere berühmte jüdische Gelehrte und Rabbiner bestattet, und auf deren Grabsteinen liegen viele kleine Steine, teilweise mit Briefen oder anderen Zetteln dazwischen.

Andere Kultur, andere Zeitrechnung

Es ist eine völlig andere Atmosphäre als auf einem christlichen Friedhof, weil vor allem die alten Friedhofbereiche aus unseren Augen gar nicht richtig wie ein Friedhof aussehen. Es wirkt mehr wie ein Fantasy-Szenario denn wie eine Gräberstätte. Erst die deutlich jüngeren Grabmale kommen uns bekannter vor. Hier sind die Juden dazu übergegangen, sich mehr an christlichen Bestattungssitten zu orientieren und bauten größere und abwechslungsreichere Monumente.

Während die älteren Grabsteine alle in hebräisch beschriftet sind (leider können wir da nicht mal das Datum lesen), sehen wir auf den jüngeren Grabsteinen des 19. und 20. Jahrhunderts auch deutsche Inschriften. Auf einem Grabstein entdeckte ich auch die Jahreszahl 54xx (vergessen und leider nicht fotografiert) – dabei wurde mir erst wieder bewusst, dass der jüdische Glaube einen anderen Kalender nutzt. Natürlich zählen die Juden nicht ab Christi Geburt. Stattdessen nehmen sie die „Schöpfung der Erde“ (Annus mundi) als Jahr 0. Nach dem jüdischen Kalender befinden wir uns jetzt im Jahr 5778.

Die letzte Ruhestätte

Obwohl die Friedhofsfläche des Wormser Friedhofs nicht sooo groß ist, sind wir doch eine Stunde oder mehr herumspaziert. Es ist ein wirklich beeindruckendes, irgendwie unwirklich wirkendes Erlebnis. Die Friedhöfe, die ich kenne – auch die mit älteren Gräbern aus dem 19. und vielleicht sogar 18. Jahrhundert, sind eher „ordentliche Gräbersammlungen“: Überschaubar, meist in Reih und Glied, ebenes Gelände.

Auf dem jüdischen Friedhof in Worms aber wirkt alles so zufällig, die Grabsteine sind fast schon pittoresk über die Hügel verteilt. Irgendwie wirkt der Friedhof gar nicht wie ein Ort der Trauer, sondern mehr wie ein Ort des „Eingangs in die Natur“. Es scheint, als würden die Toten hier gar nicht aus dem Leben ausgegliedert, sondern mehr… ja, zur Ruhe gebettet.

Es war ziemlich bemerkenswert.

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